- Kandinskys Weg zur Abstraktion: Eigenwertige Farben und Formen
- Kandinskys Weg zur Abstraktion: Eigenwertige Farben und FormenSchon in seiner Jugend wurde Wassily Kandinsky von der Macht der Farben magisch angezogen. In seinen »Rückblicken« erinnert er sich an frühe Kindheitseindrücke, bei denen Farberlebnisse eine wichtige Rolle spielten. Als Maler vertiefte er sich später vor allem in das Wesen und die Wirkung der Farben, die er zur Grundlage einer neuen abstrakten Kunst erhob.Kandinsky, 1866 in Moskau geboren, studierte zunächst Jura und Volkswirtschaft. Verschiedene Erlebnisse bestärkten ihn aber bald in seinem Wunsch, die Universitätslaufbahn aufzugeben und Maler zu werden. In einer Moskauer Ausstellung von Bildern Monets erkannte er deren Motiv - einen Heuhaufen - nicht sofort, war aber von der stimmigen Komposition und den glühenden Farben beeindruckt. Während einer Aufführung von Richard Wagners »Lohengrin« nahm er beim Hören der Musik Farben und Formen wahr. Dieses »synästhetische« Erlebnis machte ihn auf die geheime Korrespondenz zwischen Malerei und Musik aufmerksam - ein Generalthema der abstrakten Malerei, auf das er in seinen späteren Schriften immer wieder zu sprechen kam. Für Kandinsky hatte jede Farbe eine bestimmten »Klang«, der direkt auf die Psyche des Betrachters wirkt: »Das Gelb zum Beispiel hat die spezielle Fähigkeit zu »steigen«, immer höher, bis es für Ohr und Geist unerträgliche Höhen erreicht: der Ton einer Trompete, immer höher gespielt, immer »zugespitzter« tut Ohr und Geist weh. Das Blau hingegen mit seiner entgegengesetzten Kraft des »Niedersteigens« in unendliche Tiefen assoziiert den Ton der Flöte (wenn das Blau hell ist), denjenigen des Cello (wenn es dunkler wird, »herabsteigt«) schließlich jenen großartigen tiefen Ton des Kontra-Basses und endlich: »sehen« Sie in den tiefsten Orgeltönen die Tiefen des Blau.«1896 kam Kandinsky nach München, dessen pulsierendes Kulturleben damals viele Künstler anzog. Nach verschiedenen vergeblichen Versuchen, in der dortigen Kunstszene Fuß zu fassen, gründete er 1901 die Ausstellungs- und Künstlervereinigung »Phalanx«. Trotz weitsichtiger Ausstellungen zum Werk von Lovis Corinth, Wilhelm Trübner, Claude Monet, Paul Signac, Theo van Rysselberghe, Félix Vallotton und Henri de Toulouse-Lautrec gelang es dieser Gruppe jedoch nicht, das nötige Interesse von Kritik und Publikum zu wecken, um diese kunstpolitischen Aktivitäten fortsetzen zu können. Nach zahlreichen Reisen durch Europa kehrten Kandinsky und seine Lebensgefährtin, die Malerin Gabriele Münter, 1908 nach München zurück. Der im Januar 1909 gegründeten »Neuen Künstlervereinigung München« schien zunächst mehr Erfolg beschieden zu sein, doch ein interner Streit im Dezember 1911 beendete die Zusammenarbeit und führte zur Gründung des »Blauen Reiters«.Seine Künstlerkollegen hatte neben Kandinskys offenkundiger Vorliebe für die französische Moderne vor allem seine Entwicklung zur Abstraktion hin schockiert, die er ab 1910 immer mehr forcierte. In seinen »Improvisationen«, die einen Vorgang »inneren Charakters« darstellen, suchte er aus reinen Farben und Formen eine eigenständige bildnerische Welt aufzubauen, die entsprechend zur Musik wie ein »klingender Kosmos« sein sollte. Wie die Farben hatten für Kandinsky auch die Formen vielfache Ausdrucksqualitäten, unabhängig davon, ob sie etwas Erkennbares darstellten. So konnte eine Form für Kandninsky ruhig oder bewegt, traurig oder fröhlich, ernst oder verspielt erscheinen.1912 erschien Kandinskys wichtigste theoretische Schrift »Über das Geistige in der Kunst«, in der er seine Überlegungen zur abstrakten Malerei zusammenfasste. Ihre Quintessenz ist der Glaube an eine »geistige Welt«, die es hinter den sichtbaren Erscheinungen zu entdecken gelte und die der Künstler nach einem »Prinzip der inneren Notwendigkeit« auszudrücken habe. In dieser Annahme ließ sich Kandinsky von okkulten und esoterischen Quellen inspirieren, zum Beispiel von Rudolf Steiners Anthroposophie, dem kurzlebigen theosophischen Okkultismus oder von Schriften über auratische Erscheinungen.Das malerische und theoretische Werk Kandinskys war für die Entwicklung der abstrakten Malerei von großer Bedeutung. Seine Gedanken über die Wirkung von Farben und Formen erfuhren durch das Bauhaus, an dem Kandinsky ab 1922 als Lehrer tätig war, weite Verbreitung. Auch wenn Kandinsky sein Ziel, eine »bildnerische Grammatik« für die Malerei zu finden, letztlich nicht erreichte, so lieferte er mit seiner in vielen Schriften niedergelegten Grundlagenforschung doch ein großes Repertoire an neuen bildnerischen Ausdrucksmöglichkeiten, das bis heute noch nicht vollständig ausgeschöpft wurde.Dr. Hajo DüchtingDokumente zum Verständnis der modenen Malerei, herausgegeben von Walter Hess. Bearbeitet von Dieter Rahn. Neuausgabe Reinbek 1995.Kunst des 20. Jahrhunderts, herausgegeben von Ingo F. Walther. 2 Bände. Köln u. a. 1998.Thomas, KarinBis heute. Stilgeschichte der bildenden Kunst im 20. Jahrhundert. Köln 101998.
Universal-Lexikon. 2012.